Der Bücherherbst 2022 – unsere Tipps
Wir haben uns wieder durchgewühlt und einiges an Neuerscheinungen vorab für euch durchgecheckt. Denn was gibt es Schöneres als an einem neblig kalten Sonntagnachmittag bei Tee und Kerzen zu lesen oder? Seid Ihr dabei? Dann geht es los mit unseren brandaktuellen Buchtipps. (teilweise Rezensionsexemplare) *
Jessica Durlacher: Die Stimme (Diogenes)
Die Niederländerin und ihr Mann Leon de Winter (wann kommt endlich wieder ein Buch von ihm) schreiben immer über gesellschaftspolitische Themen, aber so gut und spannend wie wenige. In „Die Stimme“ (Diogenes) geht es um eine gut situierte Familie, die traumatisiert von den Ereignissen des 11. September 2001 nur oberflächlich einigermaßen unbeschadet weiterlebt und Jahre später wieder in einen Strudel dramatischer Ereignisse gerät.
Sie waren damals nach New York gereist, wo Zelda einen Heiratsantrag ihres Lebensgefährten und Vater ihrer beiden jüngeren Kinder, Bor, annimmt. In erster Ehe war sie mit einem manisch-depressiven Künstler verheiratet gewesen, aus der ihr ältester Sohn Philip stammt.
Die Trauung fand auf einem Wolkenkratzer nah am World Trade Center statt. Durch Staubwolken, Trümmer und Verletzte müssen sie fliehen.
„In was für einer merkwürdigen Welt sind wir gelandet, in der ein Gott einfach so den Auftrag erteilt, zu morden, wenn jemand nicht an ihn glaubt oder schlecht über ihn spricht, in der Freude und Humor der Angst zum Opfer fallen und der Tod, der echte, hässliche, gnadenlose Tod, als letztes Mittel der Abrechnung wiedereingeführt wird.“
Jahre später tritt die geflüchtete Somalierin Amal in das Leben der Familie. Die wunderschöne junge Frau ist Muslima und wie sich bald herausstellt, eine begnadete Sängerin. Der hochbegabte Sohn Sam und die Tochter Pol überreden Zelda, ihr einen Job als Kindermädchen anzubieten.
Als sie wenig später bei einer Talentshow mitmacht, befreit sie sich vor laufender Kamera von ihrem Kopftuch, was extreme Auswirkungen auf das Leben der Psychoanalytikerin, ihres Mannes Bor, der als Rechtsanwalt arbeitet, und die Kinder hat. Amal bekommt Morddrohungen, muss versteckt werden. Die Tragödie nimmt ihren Lauf.
Die Mutterrolle, jüdisches Leben, hochbegabte Kinder, 9/11, Jessica Durlacher hat viel hineingepackt in diesen Roman, der Gesellschaftskritik und -politik in einen extrem spannenden Pageturner verwandelt. Ein Buch, das noch lange nachhallt.
Pauline Harmange: Bis zum Frühling (Rowohlt)
„Ich hasse Männer“ hieß der Skandalessay von 2020, mit dem die 1994 geborene Französin über Nacht berühmt wurde. Mit „Bis zum Frühling“ erschien am 13. September im Rowohlt Taschenbuch Verlag ihr erster Roman. Die Inhaltbeschreibung klang ganz interessant:
„In Anaïs’ Leben läuft nichts rund. Ihr Freund hat sie verlassen, den Job hat sie verloren. Eigentlich hält Anaïs nichts mehr auf dieser Welt. Sie reist nach Limoges, angeblich ein guter Ort zum Sterben, und findet dort Unterkunft bei einer älteren Italienerin: Tiziana Conti bietet ihr an, in ihrem Palazzo zu wohnen, wenn sie dafür für sie kocht. Anaïs stimmt zu. Sie lernt Tizianas Freundinnen kennen und wird Teil einer großen Familie. Kann es sein, dass das Leben Schöneres für sie bereithält als bisher angenommen? Sie beginnt, sich selbst zu mögen. Nur als der Sohn von Tizianas bester Freundin auf den Plan tritt, ist Anaïs nicht begeistert. Aber der lässt sich davon nicht abschrecken.“
So weit so gut. Aber, ehrlich gesagt, habe ich mich sehr durchgequält. Alles wird angerissen und nichts wirklich ausgeführt. Anaïs’ Schwester ist glücklich verheiratet, aber mit dem gemeinsamen Kind und Beruf überfordert und erschöpft. (Ok, ja, wissen wir, dass das hart sein kann…) Sie selbst ist irgendwie weinerlich und frau denkt immer, Mädel, du bist 25. Reiß dich zusammen und genieß dein Leben. Liebeskummer haben wir alle mal in dem Alter. Sorry 😉
Die Anfangssequenz mit dem Tätowieren – was soll das? Die Erotik der Nadel? Die Liebesgeschichte holprig und vorhersehbar. Das Kochen? Häh? Nur weil sie zweimal die Woche zum Markt geht und ein paar Nudeln kocht?
Aber vielleicht bin ich zu alt dafür?
Stefanie vor Schulte: Schlangen im Garten (Diogenes)
Was für eine Wohltat ist dagegen wieder dieses Buch, obwohl es um Trauer und einen großen Verlust geht. Denn Adam und seine drei Kinder haben die Ehefrau, beziehungsweise die Mutter verloren. Und alle versinken jetzt erst einmal im Schmerz und können nicht zurück in ihr altes Leben.
„Denn“, sagt Brassert. „Egal wie die anderen sind. Schlecht und gemein. Ignorant und verschlagen. Du hast dein Herz ja noch. Die Welt ist ohne Mitleid. Aber du kannst ja welches haben. Auch wenn dein Zimmer klein ist oder dein Schicksal zu schwer für dein Leben.“
Doch richtig beschreiben kann man dieses wunderbare schmale Büchlein schlecht. Es steckt voller kleiner poetischer Geschichten und Betrachtungen. Und es ist so gar nicht grau – traurig zwar, aber auf eine berückende Art und Weise. Stephanie vor Schulte hat etwas Kostbares geschaffen, das man sich auf keinen Fall entgehen lassen und in kleinen sorgsamen Schlückchen genießen sollte – wie den süßen Tee am herbstkalten Nachmittag.
Dörte Hansen: Zur See (Penguin)
Über das Hörbuch haben wir ja bereits in einem Gespräch mit der Autorin und Nina Hoss berichtet (zum Artikel geht es hier). Aber auch das Buch ist einfach wunderbar zu lesen. Ein Jahr mit allen saisonalen Ereignissen auf einer kleinen Insel in der Nordsee wird hier nacherzählt. Im Mittelpunkt die Familie Sander, deren Urgroßväter noch auf Walfang gingen.
„Er kann die Stürme auseinanderhalten wie andere Menschen Vogelstimmen. Er weiß, wann sie nur spielen wollen, nur ein bisschen toben oder grölen. Und wann man sie persönlich nehmen muss.“
Seitdem hat sich viel verändert. Auch der Tourismus, der sich über die Jahre auch wieder verändert hat. Früher lebten die Besucher*innen quasi als Sommergäste in den Häusern der alteingesessenen Familien – über Wochen. Heute geht man drei, vier Tage ins Wellnesshotel. Mutter Hanne Sander arbeitet deshalb lieber im Museum. Ihr Mann hat sie vor 20 Jahren verlassen und lebt als Eremit und Vogelbeobachter. Der ältere Sohn ist ein Trinker, der mehr recht als schlecht von Gelegenheitsjobs lebt und wieder zu Hause eingezogen ist. Der jüngere Sohn ist Künstler, baut aus Strandgut Skulpturen, schwimmt zu jeder Jahreszeit im Meer und ist immer barfuß unterwegs.
Und dann gibt es noch Tochter Eske, Altenpflegerin, großflächig tätowiert, Heavy Metal-Fan und ebenfalls Winterschwimmerin. Im Auge hat sie alle der Pastor, der selber in einer Lebenskrise steckt, denn seine Frau ist während der Woche aufs Festland gezogen. Alles verändert sich, ein Wal strandet und verendet, und zum Schluss musste ich ein paar Tränen vergießen. Dörte Hansen schreibt einfach so klar und unmissverständlich, nie wertend und immer zugewandt. Weihnachtsgeschenk-Tipp!
Heinz Strunk: Ein Sommer in Niendorf (Rowohlt)
Noch eine Art Küstenroman, diese Mal Ostsee. Dorthin verzieht sich der Jurist Roth und mietet sich für drei Monate in ein schäbiges Appartement ein, um die Geschichte seiner Familie aufzuschreiben. Dass die Schriftstellerei doch kein leichtes Handwerk und der schmierige Trinker mit den vielen Jobs bald seine einzige Bezugsperson sein wird, der Weg dahin ist nicht lang. Nach und nach dämmert es, wie einsam der feine Herr eigentlich ist.
In Heinz Strunks unnachahmlicher präziser Sprache wird diese Tragikomödie zu einer Odyssee mit überraschendem Ausgang. Fesselnd, spannend, entlarvend.
* Die Cover enthalten sogenannte Affiliate-Links, das heißt, wenn du das Buch nach dem Klick dort kaufst, kostet dich das keinen Cent mehr, wir verdienen ein paar zum Erhalt dieses Magazins. Danke!
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