Vorbilder: die Sterbeamme Karin Simon und ihr Buch
Karin Simon ist 64 Jahre alt, hat „drei wunderbare Kinder und einen Bildhauer als Mann“. Sie ist Sterbeamme, Traueramme, freie Trauerrednerin, Heilpraktikerin für Psychotherapie und Musikkabarettistin. Und jetzt ist sie auch noch Autorin. Ihr Buch „Von Bleiben war nie die Rede“ ist vor kurzem im Droemer-Knaur Verlag erschienen.*
Geboren wurde Karin Simon in Ingolstadt. Im Alter von fünf Jahren ist sie mit ihren Eltern nach Ansbach umgezogen, da ihr Vater als Bankdirektor dorthin versetzt wurde.
„Da habe ich meine Kindheit und meine Schulzeit verbracht, das Fachabitur Sozialwesen gemacht und eine Ausbildung zur Krankenschwester in der Psychiatrie absolviert.“
Ihr weiterer Lebensweg führte sie nach München: „Ich wollte damals unbedingt in die Entwicklungshilfe“. Deshalb arbeitete sie im Schwabinger Krankenhaus auf der Infektionsabteilung, wo sie die ersten Aids-Fälle miterlebte.
Fotos: Vera Gabler/Knaur
„Dann habe ich meinen ersten Mann kennengelernt, der Zauberer war. Wir gründeten ein Zaubermusisches Theater, heirateten und bekamen drei Kinder. Wegen des Erdinger Flughafens sind wir in die Oberpfalz umgezogen und haben uns da ein Haus gekauft, in Hörmannsdorf bei Parsberg. Mein Mann ist dann ziemlich krank geworden und verstorben.“
Wie würdest du dich selber beschreiben?
Ich bin eine starke Frau mit zwei unterschiedlichen tiefen Seiten: Auf der einen Seite bin ich sehr spirituell und nachdenklich. Ich denke viel über das Leben nach und weil meine Mama so früh gestorben ist, auch über das Leben nach dem Tod.
Auf der anderen Seite bin ich eine totale Wuchtbrumme mit einem unglaublichen Humor, und einer Schlagfertigkeit, die ich von meiner Mama geerbt hab… Also mit mir sollte sich mal lieber keiner verbal anlegen (lacht).
Mit meiner starken Schaffenskraft und meinen Fähigkeiten habe ich mir meine Arbeit, die Praxis, die Kurse und Seminare und das Musikkabarett aufgebaut.
Du hast ja ein Buch jetzt geschrieben, in dem es um das Sterben und den Tod geht… Warum hast du dich damit beschäftigt?
Ich habe aus meinem Leben, meinen Erfahrungen und Begegnungen erzählt, geschrieben hat es dann Shirley Soul, eine Ghostwriterin.
Ich sag immer, „Irgendwann ist jeder dran“.
Wenn der Tod anklopft und man nicht davonläuft, sondern sich mit dem Tod auseinandersetzt, dann verliert man die Angst, und das Leben stellt sich auf den Kopf. Und wenn das Leben auf dem Kopf steht, fällt alles aus den Taschen, was man nicht braucht.
Dann wird alles leichter. Da war zum einen der frühe Tod meiner Mama. Sie litt zwei Jahre lang an einer ziemlich gruseligen Erkrankung. Damals wusste man nicht, was sie hat. Sie ist von einer lebenslustigen Wuchtbrumme zu einem sabbernden Elend geschrumpft. Die letzte Zeit konnte ich sie nicht mehr besuchen, weil es einfach so ein furchtbarer Anblick für mich war. Und dann war sie tot, und ich war allein mit meinen Schuldgefühlen.
Mein Vater war schon wieder unterwegs – mit jungen Mädchen und viel Alkohol. Ich war allein, ich habe keine Geschwister, hab so getrauert und geweint. Dann kam eines Nachts ein helles Licht zum Fenster herein, es hat den ganzen Raum ausgefüllt, es war dunkel. Da war kein Scheinwerfer, es war kein Auto, wir waren im zweiten Stock, es war ein ganz helles Licht. Ich wusste überhaupt nicht, was das ist, als Fünfzehnjährige, aber das war der Startschuss um nachzuforschen
Was war das? Wo kommen wir her, wo gehen wir hin? Und warum müssen wir so leiden, warum müssen wir so viel aushalten im Leben?
Dann sind mir immer wieder die richtigen Leute begegnet, die mich ein Stück auf dem Weg begleiten. Während meiner Zeit in Ansbach in der Psychiatrie und im Schwabinger Krankenhaus begegnet man ja permanent Menschen, die sterben. Das ist ja ganz normal im Krankenhaus, und ich bin bald immer dazu gerufen worden, weil ich eine Gabe habe:
Ich nehme Menschen in den Arm, spüre Ihre Seele und sie starben ganz leicht. Eine Gabe, die mich erst einmal furchtbar erschreckt hat.
Du hast praktisch keine Berührungsängste mit dem Tod?
Nein, für mich ist er ein Freund, ein Kumpel, ein Erlöser. Sterben ist ein Neuanfang.
Wann hast du den Beruf dann aufgegeben und dich selbstständig gemacht und warum?
Irgendwann konnte ich im Krankenhaus einfach nicht mehr arbeiten. Meine Seele hat nur noch geweint, weil wir keine Zeit mehr für die Patient*innen hatten. Wir sind durch die zehn Stunden Nachtschichten nur noch im Dauerlauf gerannt. Einmal bin ich hingefallen, und hab mir die Hand gequetscht.
Das waren für mich Zeichen: „Es wird Zeit, dieses System Krankenhaus zu verlassen“.
Es ist nicht mehr tragbar, was da in den Krankenhäusern passiert. Teilweise haben wir nicht einmal mehr die Einlagen wechseln können. So hab ich mir überlegt, was mach ich. Der erste Schritt war eine Ausbildung zur Psychotherapeutin nach dem Heilpraktikergesetz.
Während dieser Zeit habe ich mit Körperbehinderten gearbeitet, bei Phönix in Regensburg. Dann ist mir jemand mit dem Einkaufswagen in die Achillessehne gedonnert, wieder ein Zeichen. Ich habe noch lang gebraucht, den endgültigen Schritt in die Selbständigkeit zu wagen.
Bin nach der Heilung des Fußes, in ein Altersheim arbeiten gegangen als Betreuungskraft. Dann kam der Speiseröhren-Krebs.
Auf einmal wurde mir bewusst, was die geistige Welt will.
Ich soll als Selbstständige in meine Praxis gehen und vertrauen. So habe ich eine Erwerbsminderungsrente beantragt und bekommen. Zaghaft habe ich dann hier in meiner eigenen Praxis angefangen mit autogenem Training und den ersten Klienten.
Und dann kamen immer mehr Menschen, die trauerten, und immer mehr Menschen mit schweren Diagnosen – austherapiert, den Tod vor die Augen. Da ich mich damals nicht so kompetent gefühlt hab und mir ständig Sterbeammen über den Weg gelaufen sind, hab ich die nächsten Zeichen verstanden und mich zur Sterbeamme nach Claudia Cardinal ausbilden lassen.
Das war das Beste, was ich habe machen können. Die Heilpraktikerin zur Psychotherapie Ausbildung war schon super für das eigene Reflektieren:
„Du musst ja erst einmal dich selber aufräumen, deine alten Schatten anschauen, sonst kannst du nicht gut therapieren“.
Die Sterbeammen-Ausbildung allerdings hat mich komplett auf den Kopf gestellt. Da hab ich nochmal alles von vorne hinterfragt und Antworten bekommen.
Dann, während eines Schamanen-Retreats, habe ich das Reisen in die Anderswelt gelernt. Das ist mit der wichtigste Teil in meiner Arbeit mit Klienten, Sterbenden und Trauernden geworden. Die Anderswelt ist der schamanische Begriff für das morphogenetische Feld, in dem wir alle miteinander verbunden sind, wo alles Wissen, dein Unterbewusstsein und auch das kollektive Unterbewusstsein gespeichert ist. Und wo alles möglich ist.
Dort können wir Seelenanteile aufspüren und zurückholen, innere Kinder heilen und Verstorbene treffen, um zu verzeihen, unerledigte Dinge anzugehen oder einfach nur mit ihnen zu ratschen.
Warum haben wir alle Angst vor dem Tod? In Mexiko zum Beispiel wird es gefeiert?
Hauptsächlich sind das die Kirchen, die einem Angst machen. Auch die Religionen mit dem Karma… Angst schüren, wo es geht: Da ist der große Papa. Und wenn du nicht brav bist, dann kommst du in die Hölle oder dann kommst du in den Keller oder wirst im nächsten Leben eine Ameise.
Weil man einfach die Menschen nicht anders zum Gehorsam kriegt. Diese Institutionen, die solche Angst verbreiten, wollen ihre Menschen klein machen. Deshalb stehen die auch immer so demütig und betröpfelt schwarz gekleidet da. Weinend, weil sie Angst haben.
Meine Wahrheit sagt, dass Gott barmherzig ist und dass Gott nie jemanden fallen lassen würde.
Wenn jetzt so ein Narr da rüber kommt in die andere Welt, ja, dann ist er vielleicht nicht gleich im Paradies, sondern er ist auf einer anderen Ebene, wo es vielleicht schon a bisserl dunkel und vielleicht auch gruselig ist. Wo wir einen Transformationsprozess erfahren können, wenn wir das wollen.
Gott ist so barmherzig, dass er selbst sogar den krassesten Menschen irgendwann Lichtwesen schickt, die diesen Menschen die Hand reichen und sagen: Komm mit! Und das ist für mich absolut die Wahrheit.
Gott wird uns nie verstoßen. Und wenn die in Mexiko feiern, dann feiern sie, dass es endlich geschafft ist, dieses irdische Leben. Dass der Verstorbene jetzt eben an einem Ort ist, wo es viel schöner ist.
Früher konnte man sich von den Toten richtig verabschieden, sie wurden aufgebahrt. Jetzt hält man das alles vor allem auch von Kindern fern…
Dazu habe ich eine Geschichte mit einem Sechsjährigen, der sich von seinem Opa am offenen Sarg verabschieden konnte, weil die Mama es zugelassen hat. Er kam rein mit riesengroßen Augen und einem Kochlöffel in der Hand. Ich hab ihn gefragt: Na, was machst du denn mit dem Kochlöffel? Den müsse er jetzt seinem Opa mitgeben, den Kochlöffel, dass er für die Engel seine gute Kürbissuppe kochen kann.
Dieser Junge wird keine Verlustängste aufbauen.
Meine Erfahrung ist: Verstorbene schauen alle friedlich aus, die lächeln alle am Schluss. Da ist Frieden, spürbarer Frieden da.
Warum soll man das Kinder nicht anschauen lassen? Das ist ja eigentlich etwas, was einem dann die Angst nimmt. Früher lag die Oma im Wohnzimmer, und alle waren dabei, als sie gestorben ist. Und dann noch drei Tage bleiben durfte. Jeder konnte die friedliche Veränderung des Leichnams wahrnehmen.
Das ist so wichtig für den Trauerprozess, um es zu begreifen. Dieser Mensch ist tot!
Wissenschaftliche Beweise kann ich nicht liefern, aber ich weiß einfach, dass es danach weitergeht, weil ich ja immer wieder mit Verstorbenen in Kontakt komme. Meine Klienten leite ich an, dass auch sie in Kontakt zu ihren Verstorbenen kommen. Durch meine Anleitung, Worte, meine Musik entspannen sich die Menschen und das bringt sie in einen Trance-Zustand, den Theta-Zustand.
Das Bewusstsein verändert sich, und man betritt den Raum des Unterbewussten, auch des kollektiven Unterbewusstseins, eben das morphogenetische Feld, die sogenannte Anderswelt.
Meine Lieblingsgeschichte dazu ist Folgende: Ich habe ein Elternpaar begleitet, da ist das Kind verstorben zwei Tage vor der Geburt. Das war eine Tragödie, wie man sich vorstellen kann. Ich bin also dahingefahren, da waren alle Geschwisterkinder, und die haben mir ein Bild von dem verstorbenen Baby gezeigt. Es war für mich das erste Mal, dass ich ein verstorbenes Baby gesehen habe, und ich bin ziemlich verstört heimgefahren.
Ich spürte, dass das Kind jetzt bei mir ist. Ich sehe die Verstorbenen nicht, ich spüre sie.
Damals war ich noch in der Ausbildung. Ich spürte das Kind, wie es an meinem Bett gesessen hat, dann war das Kind mit mir am Badesee…
Während des Ausbildungswochenendes habe ich davon erzählt und Claudia sagte: Mach mal die Augen zu, dann sind wir alle miteinander auf die Wiese gereist, die Wiese, wo ich auch bei Sitzungen immer mit den Klient*innen hingehe. Ich habe das Kind gebeten, dass es zu mir kommt.
Es kam dann raus aus dem Wald auf die Wiese, an der Hand einer alten Frau, und es hatte keine Augen. Ich fragte es, was es von mir will. Und es antwortete, dass ich mich um die Mama kümmern soll.
Das hab ich versprochen. Später habe ich mit den Eltern gearbeitet, ganz behutsam. Und irgendwann haben sie gesagt, von sich aus, sie wollen jetzt ihr Kind treffen.
Es stellte sich heraus, dass das Kind blind gewesen wäre, und die Oma eine Woche zuvor gestorben war, um das Kind in Empfang nehmen zu können. Und ich schwöre, dass ich den Eltern nichts von meiner Reise bei Claudia erzählt habe.
Du bist ja auch Musikerin und Kabarettistin, wie kam das?
Ich musste als Kind erst Klavier lernen, das mochte ich nicht. Aber erst mit zwölf bekam ich eine Gitarre, da konnte ich meinen Weltschmerz in Texte und Lieder fließen lassen. Meine Kindheit war ja nicht so schön.
Später hatte ich einen schwarzen Freund, Amerikaner. Und das war furchtbar, weil uns die Leute so geschnitten haben, die Schwarzen, aber auch die Weißen. Das habe ich dann auch in Songs verpackt. Es folgten Auftritte bei einem Abiball, auf Münchner Kleinkunstbühnen, und schließlich tourte ich mit den Pertussis 16 Jahre lang durch die Lande.
Inzwischen toure ich mit einem neuen Programm: „Zum Sterben schön“, was perfekt zu meinen anderen Tätigkeiten passt. Vor kurzem war ich im Tonstudio, den QR-Code zu allen Liedern gibt es im Buch!
Für wen ist dein Buch?
Für alle Menschen. Denn wir sollten uns alle möglichst früh mit dem Tod beschäftigen. Dass man, wenn er anklopft, nicht unvorbereitet auf ihn trifft. Wir werden geboren und gehen mit dem Tod schwanger.
Und im letzten Bett läuft dein Lebensfilm vorbei. Also frage dich immer wieder: „Welchen Film willst du sehen?“
Es hat ein bisschen gedauert, bis ich in der Ausbildung begriffen habe, dass ich jeden Moment den letzten Film drehe. Am Ende will ich sehen, dass ich gelacht und gefeiert habe. Dass ich geliebt hab, dass ich verrückte Sachen gemacht habe und nicht, dass ich nur Fenster geputzt und gestaubsaugt hab.
Ich möchte sagen:
„Das Leben war schön
Ich bereue nichts
Ich hab nichts versäumt
Ich hab das Leben mit allen Sinnen gelebt und geliebt
Und des mach ich nach jetzt gleich nochmal…“
Hier geht es zu eines Leseprobe.
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Danke für diese „Entdeckung“ und Empfehlung. Das Interview hat mich sehr berührt.
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Liebe Brigitte, dann freut es uns sehr. Ich finde es sehr wichtig, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Es macht vieles leichter. Viele Grüße Ursula