Spannende Bücher für den Frühling 2022

22. Februar 2022 | immer.kreativ

Die Leipziger Buchmesse ist leider wieder ausgefallen, viele spannende Bücher sind trotzdem in den letzten Monaten erschienen. Hier eine kleine subjektive Auswahl. (Rezensionsexemplare*)

Welten auseinander

In ihrem – zumindest in Grundzügen – autobiografischen Werk „Welten auseinander“ (S. Fischer Verlage) erzählt Julia Franck („Die Mittagsfrau“) die Geschichte ihrer Familie und ihrer Kindheit und Jugend. Und das ist nichts für schwache Nerven. Ihre Mutter, eine Schauspielerin, hat vor ihrer Geburt und der ihrer Schwester bereits eine Tochter und einen Sohn jeweils von einem anderen Vater, letzterer ist gestorben. Dass sie Zwillinge und wieder Mädchen bekommt, ist erst einmal ein mittlere Katastrophe für sie. Im Nachhinein erfährt die Erzählerin, über ihre Tagebucheinträge spricht sie in der dritten Person „Das Mädchen“, dass sie noch als Babys zu Pflegeeltern gegeben worden waren.

„Wir betrachten jeder die Welt aus unserer Perspektive, wir kennen unsere Nächsten auf die uns ganz eigene Art, wir wissen Dinge übereinander, die der andere selbst von sich nicht weiß. Wer weiß schon, wie der andere einen sieht, hört und liest.“

Sie hat jüdische Vorfahren und eine Großmutter, die bis ins hohe Alter als angesehene vitale Bildhauerin in Ostberlin lebt. Dort wächst sie auch auf, bis sie über das Lager Marienfelde die Ausreise in den Westen schaffen – mit noch einer weiteren neu geborenen Schwester von wieder einem anderen Vater. Ihren eigenen lernt sie erst nach ihrer Rückkehr nach Berlin im Teenageralter kennen. Wenige Monate später stirbt er an Krebs.

Das Leben in Schleswig-Holstein ist unglaublich hart, und sie leben in prekären Verhältnissen. Mutter Anna ist eine Sammlerin, die das ganze Bauernhaus mit Müll vollstopft. Geputzt wird so gut wie nie, und die Kinder sind meist sich selbst überlassen.

Oft ist zu wenig Geld für Essen da, geschweige denn für Kleidung wie sie die Mitschüler*innen tragen. Mit 13 hält sie es zuhause nicht mehr aus und zieht zu Freunden ihrer Mutter nach Westberlin, wo sie sich mit Babysitten und Putzen über Wasser hält und schließlich in eine eigene kleine Wohnung ziehen kann.

Sie lernt ihre große Liebe Stephan kennen, macht ihr Abitur nach, alles scheint sich zum Guten zu wenden, als sie der schlimmste Schicksalsschlag ihres jungen Lebens trifft…

Beim Schreiben bekomme ich noch Gänsehaut und habe so großen Respekt vor dieser mutigen Frau, der das Schreiben wohl das Leben gerettet hat. Hoffentlich gibt es bald wieder einen Roman von ihr. Auch vom zeitgeschichtlichen Aspekt her eine wahre Fundgrube. Das Buch hat mich sehr berührt.

Allein

Daniel Schreiber kenne ich von seinem hervorragenden Buch über Alkoholabhängigkeit („Nüchtern. Über das Trinken und das Glück“). Jetzt hat sich der Autor und Journalist eines der elementarsten Gefühle angenommen: dem Alleinsein (Hanser Berlin). Verstärkt durch die Pandemie muss er sich als Single mit Einsamkeit und auf sich selbst zurück geworfen Sein auseinandersetzen.

Im Lockdown werden die Kleinfamilien wieder wichtig, wer keine hat, ist allein. Wirklich allein.

Wie immer setzt sich Schreiber auf eine sehr philosophisch reflektierte Art mit dem Thema auseinander. Unter anderem auch damit, ob Freundschaft Partnerschaft und Liebe ersetzen kann.

Er entdeckt den Trost der Natur, des Gärtnerns, lebt für ein paar Monate auf Lanzarote und wird wieder zuversichtlicher. Eine erste wichtige Aufarbeitung einer Zeit, die hoffentlich irgendwann hinter uns liegen wird.

Erstaunen

Richard Powers lebt und arbeitet in den USA, wo auch sein neuester Roman in einer nicht allzu fernen Zukunft spielt (S. Fischer Verlage). Die Zustände in den Städten und Straßen sind chaotisch. Die Klimakatastrophe, marodierende Banden, korrupte Politiker beherrschen den Alltag.

Inmitten dieser unberechenbaren Welt lebt der Astrobiologe Theo mit seinem hochbegabten Sohn Robbie, der auch Züge des Asperger Syndroms aufweist, nach dem Tod der Mutter Ally allein.

Am Anfang des erschütternden Buches erleben wie die beiden während eines Ausflugs in ein letztes Stück Natur, wo Normalität kurz lebbar ist. Robbie kommt in der Schule nicht zurecht, wird gehänselt. Er eifert seiner Mutter nach, die eine vehemente Naturschützerin war und bei einem Unfall ums Leben kam. Ich musste das Buch immer wieder beiseite legen, weil es so schmerzhafte Szenen enthält. Andererseits werden wir mit unserem Alleinsein (oder sind wir es gar nicht?) im unfassbar großen Universum konfrontiert. Aber auch mit der Schönheit der Natur und des Mikrokosmos. Ein wichtiges, sehr trauriges Buch, das in einer unheimlich schönen Sprache erzählt wird.

Lesen als Medizin

Ich werde nie vergessen, als ich an einem Gründonnerstag das Buch „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara (übrigens eine gute Bekannte von Daniel Schreiber) zu Ende gelesen habe. Ich habe geheult wie ein Schlosshund, eine wahre Katharsis. Um genau solche Erlebnisse mit dem Lesen geht es unter anderem in dem spannenden Werk von Andrea Gerk (Kein & Aber, Neuauflage von 2015). Literatur kann eine magische Kraft entwickeln, die uns im Innersten berührt.

„Bücher können Trost schenken, Mut machen, Spiegel vorhalten, Zuflucht sein, Perspektiven ändern, Leidenschaft entfachen und Krankheiten heilen.“

Die Autorin und Moderatorin geht dabei bis zurück zu Platon und Aristoteles. Wir treffen auf literarische Patienten wie Marcel und Teofila Reich-Ranicki, Hanns-Josef Ortheil, Anton Reiser oder Michel de Montaigne.

Sie nimmt uns mit in Patientenbibliotheken, Kriege und auf die Couch von Sigmund Freud. Und schließlich zur Verwandlung des Lesers zum Schreiber.

„Richtiges Lesen rettet vor allem, einschließlich vor einem selbst.“

Daniel Pennac

Vor allem in den persönlichen Erfahrungen der leidenschaftlichen Leserin Gerk konnte ich mich 1000-prozentig wiederfinden. Wenn man sich in einen Schriftsteller verliebt, alles, aber auch wirklich alles von ihm verschlingt und regelrecht besessen wird.

Es ist aber auch eine gelungene Kulturgeschichte in Sachen Geist und Krankheit, beziehungsweise Gesundheit. Denn das, was zwischen zwei simplen Buchdeckeln schlummert, kann einem durch die Pubertät helfen, Liebeskummer lindern, Trost spenden und Schutz vor dem bedrohlichen Alltag. Ohne Rezept und Nebenwirkungen. Ein Muss für jede*n leidenschaftlichen Leser*in.

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Ursula Gaisa

1968 in Schwandorf geboren. Studium Anglistik und Germanistik. Seit 1994 beim ConBrio Verlag. Journalistin, Buchautorin und Herausgeberin von immerschick.de

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